Die Empörung war groß, die Überraschung auch. Da haben sich am vergangenen Wochenende Esoteriker, Alu-Hutträger, Impfgegner, Reichsbürger und andere Rechtsextreme in Berlin zusammengefunden, um gemeinsam zu demonstrieren. Wie konnte es dazu kommen, dass besorgte Corona-Kritiker Seit’ an Seit’ mit Fanatikern voller Hass und Umsturzphantasien auftraten? Wer sich über die eigenartige Allianz wundert, übersieht, dass viele Beteiligte durch eines verbunden sind: ihre Freiheitsfeindlichkeit.
Freiheitsfeindlich? Das irritiert, denn für Freiheit trat ein Großteil der Demonstrierenden ja ein. Auf einem der Videos der Szenen vor dem Reichstag schreit ein Mann vor einem Meer von Reichsflaggen den mutigen Polizistinnen und Polizisten immer wieder entgegen: „Ich will Freiheit, Freiheit für meine Kinder“. Wovon er frei sein möchte, das wissen wir nicht. Andere haben ihr Freiheitsverständnis zum Ausdruck gebracht: Freiheit von den „entmündigenden Corona-Regeln“, Freiheit vom Zwang, eine Maske zu tragen, Freiheit von der „Merkel-Diktatur“, Freiheit vom vermeintlichen Impf-Zwang, Freiheit vom „Besatzungsregime“ und vieles mehr.
Die Sache mit der Freiheit ist kompliziert. Denn es gibt sowohl eine individuelle als auch eine gesellschaftliche Dimension in der Diskussion um die Freiheit. Freiheit steht zunächst dem Einzelnen zu. Er oder sie soll ohne Eingriffe des Staates oder der Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben führen und seine Persönlichkeit entfalten können. Es geht also um den Einzelnen.
Zugleich ist es ist schwer, Freiheit aus einer rein individualistischen Perspektive zu denken. Denn: Freiheit findet ihre Grenzen immer in der Freiheit anderer. Absolute Freiheit für mich ist letztlich nur in absoluter Isolation denkbar.
Zugleich ist es ist schwer, Freiheit aus einer rein individualistischen Perspektive zu denken. Denn: Freiheit findet ihre Grenzen immer in der Freiheit anderer. Absolute Freiheit für mich ist letztlich nur in absoluter Isolation denkbar. Ein Einzelner, weit und breit alleine, kann tun und lassen, was er will. Eine robinson‘sche Freiheit sozusagen, lebbar auf einer abgeschiedenen Insel. Sobald allerdings ein anderer Mensch von den Auswirkungen meines Handelns betroffen ist, muss das Nachdenken beginnen. Denn mit dem Gebrauch meiner Freiheit schränke ich möglicherweise die Freiheit eines anderen ein. Wenn ich mein Freiheitsrecht gebrauche, um am Sonntagmorgen um 6 Uhr Tuba zu üben, hat dies erhebliche Auswirkungen auf meinen Nachbarn, der es als sein Freiheitsrecht begreift, bis 11 Uhr zu schlafen.
Spätestens mit der Philosophie der Aufklärung hat sich in westlichen Gesellschaften die Vorstellung durchgesetzt, dass allen Menschen die gleichen Freiheitsspielräume zustehen. Der Gedanke war und ist nicht unumstritten und bei seiner schrittweisen Verbreitung gab es immer wieder Rückschläge. Männer haben größere Rechte als Frauen, Weiße mehr Rechte als People of Colour, Religiöse mehr Rechte als Ungläubige etc. Die Argumentationsmuster, die ungleiche Freiheitsspielräume rechtfertigen, behaupten immer eine Hierarchie.
Unserem bundesrepublikanischen Werteverständnis liegt aber zugrunde, dass Menschen frei und gleich in ihren Freiheitsspielräumen sind. Art 2 GG formuliert es klar: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt…“. Freiheit kann also nicht absolut gedacht werden. Sie steht immer in Bezug zu den Anderen in der Gesellschaft. Max Horkheimer hat davon gesprochen, dass Freiheitsansprüche in einer Gesellschaft nur dann gesichert werden können, wenn wir über den Verteilungsschlüssel reden: die Gleichheit.
Und hier zeigt sich das Verbindende. Dass Rechtsextreme der Idee gleicher Freiheit feindlich gegenüberstehen, entspringt dem Wesenskern ihrer Weltanschauung. Freiheit gilt darin bestenfalls für die Wenigen – die Weißen, die Arier, etc. Aber auch bei denjenigen, die es für einen elementaren Eingriff in ihre Freiheitsrechte halten, wenn sie in bestimmten Situationen eine Maske tragen oder einen Mindestabstand einhalten müssen, zeigt sich ein exklusives Freiheitsverständnis. Im Zentrum dieses Freiheitsverständnisses stehen vor allem: sie selbst. Ihr Recht, in der Bahn oder beim Einkaufen nicht durch eine Maske oder einen Mindestabstand beschränkt zu sein, ist eben wichtiger als die Auswirkungen auf andere. Ob sie mit ihrem Verhalten die Freiheit anderer gefährden oder gar deren Leben, das ist egal. Es geht ja um die eigene Freiheit, nicht die der Mitmenschen oder deren Leben.
Der Versuch der Selbstermächtigung, das Volk zu sein und nicht nur eine Fraktion in einer sehr viel größeren Gesellschaft, versucht das freiheitliche Bewusstsein hinwegzufegen, dass Gesellschaften immer plural sind.
Und dieses eigenartige Freiheitsverständnis findet sich auch in der am vergangenen Sonntag oft zum Ausdruck gebrachten Annahme, dass die Melange der Corona-Kritiker „das Volk“ sei oder gar eine „verfassunggebende Versammlung“ aus der Mitte der Demonstrationen heraus ausrufen könne. All diejenigen, die das fordern und sich als „das Volk“ verstehen, übersehen, dass sie zwar ein Teil des Volks sind, aber nach allem, was wir wissen, nur ein sehr kleiner Teil davon. Der Versuch der Selbstermächtigung, das Volk zu sein und nicht nur eine Fraktion in einer sehr viel größeren Gesellschaft, trachtet danach, das freiheitliche Bewusstsein hinwegzufegen, dass Gesellschaften immer plural sind. Es gibt immer unterschiedliche Anschauungen und Haltungen; diese müssen in einem Verfahren untereinander ausgehandelt werden. Demokratie eben.
Es ist kein Zufall, dass einige Demonstranten dazu ansetzten, das Reichstagsgebäude zu „stürmen“. Genau an diesem Ort nämlich lebt und wirkt die Demokratie. Hier werden politische Fragen debattiert und Gesetze, die Regelwerke aller, beschlossen. Wer demokratisch gewählte Parlamente angreift und verächtlich macht, hat nie die Volksherrschaft oder die Freiheit im Sinn.
Bei alledem ist klar: Streit um Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns muss sein. Wolfgang Schäubles Infragestellung, ob vor dem Schutz des Lebens alles andere zurücktreten müsse, hat dieser Debatte Nachdruck verliehen. Jede Entscheidung muss sorgsam abgewogen und immer wieder überdacht werden. Aber das, was wir am vergangenen Wochenende gesehen haben, hatte damit über weite Strecken nichts zu tun. Dort ging es oft nur darum, das eigene Ich, die eigenen Bedürfnisse und das eigene Freiheitverständnis über alles zu stellen.
Am Ende ist es ganz einfach: Freiheit lässt sich nur gemeinsam verwirklichen. Wenn wir Freiheitsspielräume in einer Gesellschaft sichern wollen, dann gehört dazu auch die Akzeptanz, dass meine Freiheit nicht über der Freiheit anderer steht. Am Wochenende hat sich eine gefährliche Allianz aufgetan zwischen denjenigen, die ihr Freiheitsverständnis absolut setzen. Es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, die Freiheit für alle im Blick zu behalten.
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